Die Reformierten. Calvinismus in Deutschland und Europa

Die Reformierten. Calvinismus in Deutschland und Europa

Organisatoren
Deutsches Historisches Museum Berlin; Johannes a Lasco-Bibliothek, Emden
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.04.2008 - 18.04.2008
Von
Ansgar Reiß, Deutsches Historisches Museum Berlin; Sabine Witt, Deutsches Historisches Museum Berlin

2009 jährt sich zum 500. Mal der Geburtstag des Reformators Johannes Calvin. Aus diesem Anlass wird das Deutsche Historische Museum in Berlin vom 6. März bis zum 19. Juli 2009 die Ausstellung „Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa“ zeigen. Kooperationspartner ist die Johannes a Lasco-Bibliothek in Emden. Im Rahmen der Vorbereitung dieser Ausstellung fand vom 16. bis 18. April 2008 im DHM ein Symposium statt. Die vielfältigen, aber oft verstreuten Forschungen zum Thema sollten zusammengeführt werden. Die Beiträge des Symposiums werden im März 2009 in der Publikation zur Ausstellung nachzulesen sein.

Das Symposium wurde eröffnet durch ein Grußwort von Bischof Wolfgang Huber. Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland betonte die Bedeutung der Erinnerung an Calvin für alle aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Die Reformation könne nicht als etwas historisch Abgeschlossenes betrachtet werden, sondern sie dauere fort. Damit war von vornherein ein Akzent gesetzt, der das Thema aus einer rein historischen Bedeutung heraushob und darauf verwies, dass die historischen Fragestellungen immer auch im Licht der Gegenwart gesehen werden müssen.

Die Tagung gliederte sich in vier Sektionen, „Johannes Calvin und die Lehre des Calvinismus“, „Verbreitung des Calvinismus in Deutschland und Europa“, „Kirchliches Leben und Frömmigkeit“ und „Kultur, Bildwelten und Politik“.

In der ersten Sektion untersuchte zunächst HERMAN J. SELDERHUIS (Apeldoorn) Bild und Selbstbild Calvins. Dem ausgesprochen negativen Bild, das etwa Lord Acton und Stefan Zweig entwarfen, stehen wenige und wenig einflussreiche positive Bilder gegenüber. Zur Entwicklung eines Idealbildes kam es, obwohl seine Schriften hohe Autorität genossen, schon im 16. Jahrhundert nicht. Ansätze zu einer persönlichen Verehrung sind nirgends sichtbar und wurden auch von Calvin selbst ausdrücklich abgelehnt.

CHRISTOPH STROHM (Heidelberg) machte es sich zur Aufgabe, „Calvins theologisches Profil“ aus den Überformungen zu lösen, die sein Bild schon im politischen Kampfbegriff „Calvinismus“ in den 1550er Jahren erlitten hatte. Gerade die Prädestinationslehre hätte in den späteren Auseinandersetzungen viel mehr Aufmerksamkeit gefunden, als ihr gebühre. In seiner Theologie folge Calvin Luther in der Betonung der Differenz von Gesetz und Evangelium, ordne aber in der zweiten Auflage seines Hauptwerkes Institutio religionis christianae dem Gesetz neben den Aufgaben, die Ordnung der Gesellschaft aufrecht zu erhalten und den Menschen angesichts der Unerfüllbarkeit des Gesetzes Demut zu lehren, auch einen dritten, für die Christen bestimmten, Gebrauch zu. Hier habe der Anspruch der Reformierten, die Reformation des Lebens in Angriff zu nehmen, eine genuine Wurzel. Wesentlicher Grund für den großen Erfolg von Calvins Theologie sei ferner seine breite Rezeption des Humanismus. Von erheblicher Bedeutung sei schließlich Calvins juristische Schulung. Dem juristischen Begriff der Billigkeit („aequitas“) entspreche die Lehre von der Anpassung („accommodatio“) des Wortes Gottes an die Beschränktheit des Menschen, die Wirkung auf den angesprochenen dritten, positiveren Gebrauch des Gesetzes habe. In der Ethik werde der Anspruch Gottes auf das Ganze der Schöpfung und damit auch auf den Menschen schärfer formuliert, indem dieser Anspruch als Recht begriffen werde. Die Mahnung, sich in Demut der Vorsehung Gottes anzuvertrauen, unterscheide Calvin von der Hervorhebung der Rechtfertigung bei Luther. Sie spiegle Calvins Erfahrung von Exil und Vertreibung und er zeige darin durchaus mystische Züge.

IRENE DINGEL (Mainz) gab einen konzisen Überblick über „Schwerpunkte calvinistischer Lehrentwicklung“ bis ins 17. Jahrhundert. Für den Calvinismus als Konfessionskirche seien zunächst die Bekenntnisschriften entscheidend. Hier ist das von Heinrich Bullinger verfasste Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566 der zentrale Bezugspunkt. Daneben stellte Dingel die sogenannten Unterscheidungslehren, in denen sich das reformierte Bekenntnis vor allem mit dem Luthertum auseinandersetzte. Wesentliche Stationen dieser Auseinandersetzung können an Erinnerungsorten wie Poissy, Montbéliard, Dordrecht und Saumur festgemacht werden. Schließlich machten Reformen im zeremoniellen Bereich sichtbar, wie die konsequente reformatorische Lehre auch das Leben veränderte.

IRENA BACKUS (Genf) analysierte ein für die calvinistische Richtung der Reformation typisches Medium, die nach systematischen Gesichtspunkten geordnete Zusammenstellung der Hauptlehren. Dazu stellte sie die Werk- und Publikationsgeschichte der „Institutio“ Calvins, der „Loci communes“ Pietro Martire Vermiglis und der „Summa der christlichen Religion“ Heinrich Bullingers einander gegenüber. Die „Institutio“, von vornherein als Kompendium der Lehre geplant, wurde 1576 von Nicolas Colladon bis zur Unkenntlichkeit durch Register, Zusammenfassungen, Querverweise und andere Lesehilfen ergänzt. Vermiglis „Loci communes“ hingegen wurden erst nach seinem Tod aus seinen Schriften nach dem Vorbild der „Institutio“ zusammengestellt und entwickelten sich zu einem für die calvinistische Lehre sehr wichtigen Werk. Bullingers „Summa“ wiederum, volkssprachlich und in viel einfacherer Form, bot dem gläubigen Laien eine Anleitung zum christlichen Leben und Sterben.

Der Abendvortrag von FRIEDRICH WILHELM GRAF (München) führte eindringlich die Prägung unserer Vorstellungen von „Calvinismus“ durch das 19. Jahrhundert vor Augen. Er zeichnete zunächst die Begriffsgeschichte bis hin zu Ernst Troeltschs Verbindung mit dem Modernisierungsbegriff nach und stellte nachfolgend als Wurzel der modernen Konnotation des Begriffs mit religiösem Aktivismus die psychologistische Typologisierung protestantischer Bekenntnisse bei dem Berner Theologen Matthias Schneckenburger heraus. Graf zog dann die Linie der interpretativen Verbindung des Calvinismus mit einem der Republik zuneigenden Bürgerhumanismus und schließlich der Genesis von Menschenrechten von Pufendorf über Karl Bernhard Hundeshagen, Hermann Weingarten und Georg Jellinek bis hin zu Michael Walzer nach. Was den Konnex mit dem Aufstieg des modernen Erwerbsgesellschaft anbelangt, die sich durch Max Webers Studien in den Köpfen festgesetzt habe, so stellte Graf schließlich eine „globale Verselbständigung“ der (Denk-)Figur des Puritaners fest. Die Tagung sah sich mit der These konfrontiert, der „Calvinismus“ lebe heute mehr als in den reformierten Gemeinden in eben diesen Deutungsmustern weiter.

Die zweite Sektion der Tagung widmete sich der Verbreitung des Calvinismus in Deutschland und Europa. EIKE WOLGAST (Heidelberg) stellte die reformierten Territorien und Dynastien im Alten Reich vor. Er hob hervor, dass das Ius reformandi beim Übertritt eines Fürsten zum Calvinismus im Allgemeinen nicht genutzt wurde. Die Gründe für den Übertritt seien jeweils stark in der persönlichen Entscheidung des jeweiligen Fürsten zu suchen. Wichtig für die Konversion sei allerdings die Bildung einer internationalen reformierten Bekenntnisgemeinschaft angesichts der Bedrohung durch die Gegenreformation und das Haus Habsburg gewesen. Die Trägerschaft liege bei einer sehr mobilen juristischen und theologischen Elite. Entsprechend gab es erheblichen und nachhaltigen Widerstand bei den Landständen und in der Bevölkerung, die sich an einer Verschiebung des Machtgleichgewichts zugunsten des Fürsten und an der Entemotionalisierung und Rationalisierung von Glaube und Liturgie stießen.

JOACHIM BAHLCKE (Stuttgart) zeichnete für das östliche Europa Entwicklungen nach, die im Spannungsfeld vorreformatorischer Erfahrungen, einer ständestaatlichen Struktur und der Herausbildung ethnischer Identitäten standen. In Polen-Litauen traten Teile des katholischen wie des orthodoxen Adels zur reformierten Glaubensrichtung über. Auf der Synode in Sandomir 1570 kam es zur wechselseitigen Anerkennung der verschiedenen Richtungen, und das Toleranzgebot der Warschauer Konföderation 1573, die dem Adel individuelle Gewissensfreiheit zusprach, hatte im Grunde bis ins 18. Jahrhundert Bestand. Für Ungarn und Siebenbürgen warnte Bahlcke davor, die Dreiteilung des Landes, so wichtig sie zweifellos war, zu überschätzen. Die Selbstbehauptung des Ständestaates sei hier eng mit dem Festhalten an der reformierten Konfession verbunden, die Widerstandstheorie habe besondere Resonanz gefunden, und Siebenbürgen bilde eine Art Angelpunkt. In Böhmen konzentrierte sich der reformierte Einfluss im 16. Jahrhundert innerhalb einer zunehmend konfliktreichen, pluralen Konfessionslandschaft auf die Brüdergemeinden. Insgesamt sei, nicht nur in der Wahrnehmung der Aufklärung, für das östliche Europa von einer retardierten Säkularisierung zu sprechen.

ALBERT DE LANGE (Karlsruhe) wandte sich dann einem eher unbekannten Feld zu: Dem Einfluss Calvins in Italien, genauer seiner Beziehung zu den Waldensern im Umkreis der Verfolgungen um 1540. Calvin hatte deutliche Vorbehalte gegenüber einer populären, ungesteuerten Durchsetzung oder Fortführung der Reformation.

JUDITH POLLMANN (Leiden) analysierte den Calvinismus in den Niederlanden in der Spannung zwischen einer öffentlichen Kirche oder Staatskirche und der freien Mitgliedschaft in den Gemeinden. Es habe sich bei der Vorstellung eines „reformierten“ niederländischen Staates immer um eine Fiktion gehandelt, die allerdings zum Teil wirkungsmächtig gewesen sei. Wesentlich sei, dass die Mitgliedschaft in der Gemeinde, sichtbar an der Zulassung zum Abendmahl, erst mit 18 Jahren aufgrund eines freien Entschlusses erworben worden sei. Diese Mitgliedschaft stehe in eindeutiger Korrelation mit der Familiengründung und der Übernahme von öffentlichen Ämtern, sie sei aber keineswegs zwingend gewesen. Dabei waren Frauen deutlich überrepräsentiert.

ROBERT VON FRIEDEBURG (Rotterdam) skizzierte das Verhältnis von Staats- und Freiwilligenkirche für England, Schottland und Neuengland. In England und Schottland habe dezidiert eine Staatskirche bestanden. Als Wurzel des späteren Bürgerkrieges machte Friedeburg die unterschiedlichen Erfahrungen von Exulanten und im Land Gebliebenen seit der Regierung Marias I., der Katholischen, aus. Während Elisabeth I. die Vorstellung eines dritten Weges entwickelte, hätten zurückkehrende Exulanten in einem Marsch durch die Institutionen ihre Überzeugungen durchzusetzen versucht. Diese „Puritaner“ seien zum Teil von der Staatskirche einbezogen worden, hätten aber doch in Betzirkeln und Briefwechseln eine unabhängige Kultur entwickelt, die Voraussetzung für das Zerbrechen des Konsenses um 1620 gewesen sei.

Die dritte Sektion der Tagung beschäftigte sich mit kirchlichem Leben und Frömmigkeit. STEFAN EHRENPREIS (Berlin) sprach über Hofcalvinismus und Exilkirche als zwei Modellen von Kirchenverfassung und Politik. Bedeutendstes Beispiel für den Hofcalvinismus sei Brandenburg, wo sich neben dem Kurfürsten selbst einige Adelige und ein Teil des dem Hof nahestehenden Bürgertums der Residenzstadt dem Calvinismus zuwandten. Nirgends habe es eine presbyteriale Kirchenverfassung gegeben. Dem stellte Ehrenpreis Minderheitengemeinden am Niederrhein, insbesondere in Köln, gegenüber, in denen sich Flüchtlingsgemeinden dauerhaft etablieren konnten. Die genauere Beschreibung der Kölner reformierten Gemeinden gab einen Einblick in die Alltagsarbeit der Presbyterien.

HEINRICH RICHARD SCHMIDT (Bern) sprach über Kirchenordnungen und Kirchenzucht in Europa. Großen Unterschieden in den territorialen Ordnungen stehe eine erstaunliche Einheitlichkeit in der konkreten Ordnung und Zucht der Gemeinden gegenüber. Diese finde ihr Zentrum in den Presbyterien und der Abendmahlsgemeinschaft und sei gerade in der Strafpraxis eine besondere Form der Versöhnungsarbeit. Die territorialen Ordnungen hingegen differierten in den verschiedenen Staaten erheblich und lehnten sich vielfach an andere Modelle an. Wesentlich sei, dass die Zucht in die Hände von Laien gelegt wurde und deshalb Selbstzucht war.

ELSIE MCKEE (Princeton) beschäftigte sich mit der Lehre vom Diakonat bei Calvin. Ihre Besonderheit bestehe darin, dass sie die fürsorgliche Tätigkeit von der seelsorgerischen trenne. Die Kirchenordnung sei nicht heilsnotwendig, aber doch von der Schrift vorgeschrieben. Auf der Grundlage dieser Auffassungen habe sich das Diakonat als ein eigenständiges Amt entwickelt, das sich nicht ins ältere Schema einer klaren Trennung von kirchlichen und weltlichen Funktionen füge. Die Rollen von Frauen und Männern seien darin nochmals differenziert. Zum Teil habe Calvins Lehre Begründungen für eine bestehende Praxis geliefert, und so sei es zur Übernahme mancher Strukturen auch durch Lutheraner und Katholiken gekommen.

ALFRED RAUHAUS (Emden) untersuchte an Beispielen aus Ostfriesland die Gestaltung des Gottesdienstraumes als materialisierter Theologie. Auffällig ist die Herausbildung eines eigenen Raumes für die Abendmahlsgemeinde. Der Prediger trete hier unter die Gemeinde und man reiche sich Brotteller und Kelch gegenseitig zu. Während das Geschehen zunächst unter den Augen des nicht am Abendmahl teilnehmenden Teils der Gemeinde stattfand, sei die Sichtverbindung erstaunlicher Weise später mancherorts baulich abgeschnitten worden. Zu deuten sei dies eventuell als Bild des Gerichtes Gottes.

ARIE DE REUVER (Utrecht) widmete sein Referat den reformierten Frömmigkeitsformen in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Dabei sei die Lektüre das tragende Element. Calvin selbst habe der Frömmigkeitsbewegung des 17. Jahrhunderts („nähere Reformation“ in den Niederlanden, Puritanismus, Pietismus) den Weg gewiesen. Für das Gebet bezog sich Reuver auf Willem Teellincks „Schlüssel der Devotion“ (ndl. 1655). Für die Schriftlektüre unterschied Wilhelm à Brakel in seinem Werk „Vernünftiger Gottesdienst“ (ndl. 1700) das wissenschaftliche Lesen von einem „praktikablen“, das nach der persönlichen Bedeutung für den Leser fragt. Sein Vater Theodor à Brakel gab in „Die Staffel des geistlichen Lebens“ (ndl. 1670) Anweisung zur Meditation, die sich als Meditation über die Schrift darstellt. Dabei verwendete er eine Sprache, die wie das zentrale Problem des Zwanges, über das zu sprechen, was man für unaussprechlich hält, an die mystische Tradition anknüpfte.

WILHELM HÜFFMEIER (Potsdam) beschäftigte sich mit dem reformierten Erbe in den kirchlichen Unionen des 19. Jahrhunderts, vor allem mit den preußischen Unionen. Die Kernthese war, dass die Unionen von reformierter Seite vorgedacht, initiiert und ausgeformt wurden, obwohl die Reformierten nicht einmal vier Prozent der Bevölkerung stellten. Die Unionen bedeuteten keineswegs das Ende des Konfessionalismus; vielmehr sei eine konfessionell gegliederte Kirchengemeinschaft entstanden.

Die vierte Sektion am letzten Tag der Tagung fasste noch einmal ein breites Themenspektrum ins Auge: Kultur, Bildwelten und Politik. Den Anfang machte GERHARD MENK (Marburg/Gießen) mit einem Beitrag zu „Hochschul- und Schulwesen des Calvinismus. Bedingungen und Ziele eines Bildungssystems“. Eine Besonderheit war die internationale, auch transatlantische Erstreckung. Diese half auch, durch gegenseitige Anerkennung der vergebenen Titel, die fehlende kaiserliche oder päpstliche Privilegierung auszugleichen und so ein eigenes, neues Normensystem zu etablieren. Trotz der Dordrechter Synode sei es auf keinem Feld der Lehre zu einer Vereinheitlichung gekommen, wie sie das gleichzeitige jesuitische Bildungswesen auf katholischer Seite kennzeichne.

ANDREW PETTEGREE (St Andrews) sprach über „Calvinismus und Buchdruck”. Die Buchproduktion um 1500 habe sich auf einige wenige Städte konzentriert, zu denen im 16. Jahrhundert nur wenige neue Zentren wie London, Wittenberg, Antwerpen und Genf hinzugekommen seien. Calvins publizistische Tätigkeit in Genf korreliere mit der kurzen Vorrangstellung der Stadt als Druckort für französischsprachige evangelische Werke. Pettegree konnte statistisch untermauern, wie nach Calvins Tod zwar die Zahl der französischen und lateinischen Neuausgaben seiner Bücher zurückging, gleichzeitig aber viele Ausgaben in anderen europäischen Sprachen erschienen. Dies sei besonders intensiv in England zu beobachten und könne ein Argument für einen calvinistischen Konsens in England sein.

KLAUS MERTEN (Berlin) stellte den Kirchenbau der Reformierten in Europa vor. Schon die Referenzbauten in Lyon (1564) und La Rochelle (1577) machen den radikalen Bruch mit der Tradition des Kirchenbaus deutlich. In anderen europäischen Ländern gab es zunächst wenig Bedarf für Neubauten. In Holland entstanden seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Neubauten. Die holländischen Formen beeinflussten Nordwest- und Norddeutschland, während Frankreich auf die Westschweiz und ebenfalls auf Norddeutschland ausstrahlte. Gerade in Berlin hätten sich die Einflüsse dann überschnitten, aber um die Mitte des 18. Jahrhunderts sei mit der allgemeineren Verbreitung querrechteckiger Formen in Brandenburg die Erkennbarkeit reformierter Architektur geschwunden.

JAN ROHLS (München) widmete sein Referat der theoretischen Philosophie, wie sie an reformierten Lehranstalten vertreten wurde. Am Beginn des 17. Jahrhunderts habe sich die Philosophie in der Form eines erneuerten Aristotelismus als Propädeutik aller Wissenschaften, also auch der Theologie, etabliert. Descartes’ Versuch einer völligen Erneuerung der Philosophie sei dann auf erheblichen Widerstand auch von reformierter Seite gestoßen. Aber auch die Verurteilung der Lehren Spinozas nach der Regierungsübernahme durch Wilhelm III. von Oranien habe die Verbreitung der neuen Lehre nicht aufhalten können, die mit der neuen Physik, dem neuen, heliozentrischen Weltbild und mit einer historisch-kritischen Lektüre der Schrift verbunden gewesen sei.

Unter dem Titel „Hot Protestantism“ analysierte MARTIN VAN GELDEREN (Florenz) die politische Sprache der englischen und niederländischen Calvinisten. Er ging von der großen staatstheoretischen Kontroverse aus, in der auf der einen Seite Hugo Grotius das Gemeinwesen aus dem Konsens der Einzelnen konstruierte und der Obrigkeit eine delegierte, dem Gemeinwohl verpflichtete Macht zuschrieb, während auf der anderen Seite die Verworfenheit des Menschen betont und die politische Souveränität aus der umfassenden Souveränität Gottes abgeleitet wurde. Diesem Gegensatz habe der Unterschied zwischen einer erasmischen, dialogischen Rhetorik und einer geradlinigen Rhetorik absoluter argumentativer Sicherheit entsprochen. Der Konflikt sei schließlich im „Hot Protestantism“ des frühen 17. Jahrhunderts in England und den Niederlanden in verschiedenen polemischen und satirischen Medien auf die Straße getragen worden, wodurch die Politik als Sache aller Bürger neu definiert worden sei.

Im abschließenden Vortrag kehrte HARTMUT LEHMANN (Göttingen) zu Max Weber zurück und untersuchte die Rezeption seiner Thesen über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Provokant an Webers These sei zunächst die Betonung nicht-ökonomischer Faktoren gerade in der Ökonomie gewesen. Weber präzisierte seine These, indem er sie pointiert auf den modernen Kapitalismus bezog und sie in vergleichender Betrachtung anderer Weltreligionen zuspitzte. Nach der breiten Rezeption, die Weber in der angelsächsischen Welt und seit den 1960er Jahren auch wieder auf dem Kontinent gefunden habe, stellte sich die Situation heute für Lehmann in dem Paradox dar, dass einerseits die sachliche Kritik an Webers Thesen überwiege, dies aber andererseits der Popularität und anregenden Kraft derselben offenbar keinen Abbruch tue.

Für ein Resümee der Tagung kann auf Gedanken zurückgegriffen werden, die HEINZ SCHILLING (Berlin) am Schluss formulierte. Zum einen trat die Notwendigkeit hervor, die Person Calvins neu herauszuarbeiten. Ganz besonders deutlich wurde die Bedeutung von Exil und Migration für die Entwicklung des Calvinismus. Das Gefühl der Bedrohung prägte ihn. In nationalen Grenzen lässt sich seine Geschichte in keiner Weise darstellen. Als eine wesentliche Besonderheit der reformierten Konfession zeigte sich die Rolle des Abendmahls für die Konstituierung der calvinistischen Gemeinden. Im Feld der Politik dagegen stellt sich die Situation einigermaßen paradox dar. Während in Calvin selbst sicherlich kein Ahnvater der Republik gefunden werden kann, ist doch der Calvinismus durch die besondere historische Konstellation in die welthistorische Rolle gerückt, entscheidende Rechtfertigungen für die Republik geliefert zu haben.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Johannes Calvin und die Lehre des Calvinismus
Herman J. Selderhuis: Calvin. Bild und Selbstbild
Christoph Strohm: Calvins theologisches Profil: Humanistische, juristische und theologische Prägungen
Irene Dingel: Räumliche und thematische Schwerpunkte calvinistischer Lehrentwicklung im 16. und 17. Jahrhundert
Irena Backus: Calvin, Vermigli and Bullinger as authors of ‚loci commues’, the common medium of European Reformation

Abendvortrag:
Friedrich Wilhelm Graf: Vorherbestimmt zu Freiheitsaktivismus. Transformationen des globalen Calvinismus

Sektion II: Verbreitung des Calvinismus in Deutschland und Europa
Eike Wolgast: Reformierte Dynastien und Territorien im Alten Reich Joachim Bahlcke: Calvinismus im östlichen Europa
Albert de Lange: Calvin, die Waldenser und Italien
Judith Pollmann: Volontary religion in a ‚public’ church. The appeal of Calvinism in the Dutch Republic and its overseas possessions
Robert von Friedeburg: Zwischen ‚Staats’- und ‚Freiwilligen’-Kirche – Calvinismus in den Königreichen England und Schottland und den Siedlungen in Neuengland

Sektion III: Kirchliches Leben und Frömmigkeit
Stefan Ehrenpreis: Hofcalvinismus und Exilkirchen: zwei Modelle von Kirchenverfassung und Politik
Heinrich Richard Schmidt: Kirchenordnung und Kirchenzucht im reformierten Europa
Elsie McKee: John Calvin’s Teaching on the Diaconate
Alfred Rauhaus: Abendmahlstheologie und die Gestaltung des liturgischen Raums
Arie de Reuver: Reformierte Frömmigkeitsformen in den Niederlanden des siebzehnten Jahrhunderts
Wilhelm Hüffmeier: Das reformierte Erbe in den kirchlichen Unionen des 19. Jahrhunderts

Sektion IV: Kultur, Bildwelten und Politik
Gerhard Menk: Das Hochschul- und Schulwesen des Calvinismus. Bedingungen und Ziele eines Bildungssystems
Andrew Pettegree: Calvinism and the Printed Book
Klaus Merten: Der Kirchenbau der Reformierten
Jan Rohls: Calvinismus und Philosophie bis 1680
Martin van Gelderen: ‚Hot Protestantism’: Die Rhetorik und politische Sprache der englischen und niederländischen Calvinisten
Hartmut Lehmann: Die Weber-These im 20. Jahrhundert
Heinz Schilling: Resümee

http://www.dhm.de/ausstellungen/calvinismus
Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger